Ein Tag im Aquarium

Kurzgeschichte

Erschienen am 07. Oktober 2024.

© 2024 Kay Roedel

 

Ich wache auf, das Licht über mir flackert kurz, bevor es hell wird. Wie immer beginnt der Tag ruhig, das Wasser ist friedlich, ich lasse mich treiben und genieße den Moment. Aber ich weiß, dass es nicht lange so bleiben wird. Gleich wird er kommen.

Manfred.

Kaum habe ich den Gedanken zu Ende gebracht, höre ich es schon: ein heftiges Platschen. Manfred, unsere Schildkröte, ist aufgewacht. Jeden Morgen das Gleiche. Kaum hat er die Augen auf, paddelt er wie ein Verrückter durch das Aquarium, als wäre er auf der Flucht. Alles, was ihm in den Weg kommt, wird umgestoßen – Pflanzen, Steine, selbst die Höhlen, die eigentlich fest verankert sind, geraten ins Wanken.

„Manfred, beruhig dich doch!“, denke ich jedes Mal, aber natürlich höre ich nicht auf, ihn innerlich zu ermahnen. Er rast durch das Wasser, als gäbe es nichts Wichtigeres. Ich versuche, ihm aus dem Weg zu gehen, doch es ist nicht einfach. Er ist groß und kräftig, und wenn er einmal Fahrt aufgenommen hat, dann gibt es kein Halten mehr.

Dann, nach einer Weile, ist der Spuk vorbei. Manfred hat genug von seiner Morgengymnastik und klettert auf seine Landfläche. Dort thront er den ganzen Tag über und sonnt sich, wie der König des Aquariums. Ich kann es ihm nicht verübeln – das Licht scheint warm, und ich verstehe, warum er es so liebt. Er liegt da und beobachtet uns, wie wir uns durch das Wasser bewegen, aber selbst macht er keinen Mucks mehr. Manchmal frage ich mich, ob er es genießt, uns beim Schwimmen zuzusehen. Oder denkt er überhaupt an etwas?

Wenn er sich bewegt, dann nur selten. Meistens am Nachmittag, wenn er von der Hitze so aufgeheizt ist, lässt er sich ins Wasser gleiten. Es sieht dann fast majestätisch aus, wie er sich langsam und gemächlich hinabgleiten lässt, als hätte er den ganzen Tag Zeit. Für einen Moment treibt er schwerelos im Wasser, aber keine Minute später paddelt er wieder zurück an Land. Man könnte meinen, er habe das Wasser nur für den Bruchteil einer Sekunde betreten, um sich abzukühlen, und dann schnell wieder auf seine Sonnenbank zurückgekehrt.

Ich dagegen ziehe es vor, im Wasser zu bleiben. Es ist mein Reich, hier fühle ich mich leicht, frei. Doch so sehr ich auch meine tägliche Routine mag, ich kann nicht leugnen, dass Manfreds wilde Morgen- und Abendaktionen für Abwechslung sorgen. Gegen Abend ist es wieder soweit. Ich sehe es schon aus dem Augenwinkel: Manfred regt sich. Erst ein leises Zucken, dann hebt er langsam seinen Kopf. Und dann – platsch! Er stürzt sich ins Wasser und wirbelt alles durcheinander.

Es ist wie ein tägliches Ritual. Ich frage mich, ob er je müde wird.

 

ENDE