Anna
Kurzgeschichte
Band 1, Ausgabe 1
Erschienen am 12. Juli 2024.
(c) 2024 Kay Roedel
Johann stand am Waldesrand und blickte in die tiefen, dunklen Tannen, die sich wie ein undurchdringlicher Vorhang vor ihm auftürmten. Die Bäume ragten hoch in den Himmel, ihre Wipfel schienen den letzten Hauch des Tageslichts zu verschlucken. Das Licht des abendlichen Sonnenuntergangs warf ein goldenes Schimmern auf die Blätter, das schnell in das kalte Grau der Dämmerung überging. Der süße Duft von Kiefernadeln und feuchter Erde lag in der Luft, ein starker Kontrast zu der bitteren Schwere, die sein Herz erfüllte.
Er erinnerte sich an den Tag, als sie sich hier das letzte Mal gesehen hatten. Anna, mit ihren leuchtenden Augen und dem ansteckenden Lachen, hatte ihn genau an diesem Ort umarmt. Ihr Haar hatte nach Lavendel und Sonne gerochen, und ihr Lächeln hatte die Dunkelheit des Waldes erhellt. „Ich werde in die Tannen gehen, dahin, wo ich sie zuletzt gesehen“, murmelte Johann vor sich hin, während er in die Schatten blickte, die sich jetzt tiefer und bedrohlicher um ihn herumzogen. Sein Herz schmerzte bei dem Gedanken an den tragischen Unfall, der Anna das Leben genommen hatte. Sie war allein unterwegs gewesen, als sie auf glitschigem Boden ausrutschte und einen steilen Abhang hinabstürzte. Trotz sofortiger Hilfe kam jede Rettung zu spät, und sie verstarb an den Folgen ihrer schweren Verletzungen.
Der Wald, der einst voller Leben und Geräusche gewesen war, stand nun still und leer. Die Vögel, die sonst ihr Abendlied sangen, waren verstummt. Es war, als ob auch sie ihren Verlust spürten und in einer Art stiller Übereinkunft schweigen wollten. Das einzige Geräusch war das leise Rascheln der Blätter im sanften Wind, ein melancholisches Flüstern, das ihm sagte, dass er hier allein war. „Weh mir, oh weh“, flüsterte Johann, seine Stimme kaum mehr als ein Hauch im stillen Abendwind. Jeder Atemzug fiel ihm schwer, als ob die Luft selbst vor Kummer erstickt wäre.
Der Anblick der dunklen, stillen Tannen brachte Erinnerungen an glückliche Zeiten zurück, Zeiten, in denen sie gemeinsam durch den Wald spaziert waren, Händchen haltend und lachend. Doch diese Erinnerungen schienen jetzt wie aus einer anderen Welt, einer Welt, die ihm für immer verschlossen war. Der Schmerz des Verlustes war überwältigend, ein alles durchdringendes Gefühl der Leere und Einsamkeit. „Ohne dich kann ich kaum sein, ohne dich so allein“, sang er leise vor sich hin, seine Stimme brüchig und voller Trauer.
Er kniete sich nieder und berührte den weichen Waldboden, seine Finger gruben sich in die kühle, feuchte Erde. Es fühlte sich an, als könnte er durch diesen Kontakt ein wenig von ihrer Nähe zurückgewinnen, auch wenn es nur eine Illusion war. Die Erde roch nach Moos und Verfall, ein Geruch, der gleichzeitig beruhigend und erschütternd war. Johann schloss die Augen und ließ die Tränen frei fließen. „Mit dir im Herzen bin ich auch allein, warum ohne dich?“, flüsterte er, und die Worte wurden vom Wind fortgetragen.
Der Abend warf sein Tuch über das Land, und die Wege hinter dem Waldesrand verschwanden im Dunkel. Die Dämmerung hüllte alles in einen grauen Schleier, und die Kälte der Nacht kroch langsam in seine Knochen. Doch er blieb, fest entschlossen, den Schmerz zu ertragen und den Ort seiner letzten Erinnerung an Anna nicht zu verlassen. Der Wald, so schwarz und leer, war jetzt sein Zufluchtsort, ein stiller Zeuge seines unendlichen Kummers.
„Ohne dich“, wiederholte er, die Worte ein leises Echo in der tiefen Stille des Waldes, „aber immer mit dir in meinem Herzen.“ Er wusste, dass er diesen Platz nicht verlassen konnte, nicht jetzt. Vielleicht nie. Denn hier, in der stillen Umarmung der Tannen, fühlte er sich ihr am nächsten, auch wenn der Schmerz fast unerträglich war.
Die Tage vergingen wie in einem Nebel aus Trauer und Verlust. Johann konnte kaum arbeiten, nicht schlafen und kaum essen. Alles erinnerte ihn an Anna. Ihr gemeinsames Zuhause, einst ein Ort der Freude und des Lachens, war nun ein stilles Mausoleum ihrer Liebe. Jeder Raum schien ihren Geist zu bewahren, und jede Ecke flüsterte ihm Erinnerungen zu.
Johann stand in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer, das immer noch so aussah, wie sie es verlassen hatte. Ihr Lieblingsbuch “Der Glöckner von Notre Dame” lag auf dem Nachttisch, ein sorgfältig platziertes Lesezeichen ragte zwischen den Seiten hervor. Er nahm das Buch in die Hand und roch daran – der vertraute Duft von Papier und einer leichten Spur ihres Parfüms stieg ihm in die Nase. Es war eine Mischung aus Vanille und einem Hauch von Rosen, ein Duft, der ihn sofort in die Vergangenheit zurückversetzte.
Der Schal, den Anna so oft getragen hatte, hing über dem Stuhl. Er nahm ihn und legte ihn an sein Gesicht. Der Stoff war weich und trug noch immer ihren unverwechselbaren Duft. Johann schloss die Augen und erinnerte sich daran, wie sie ihn oft damit geneckt hatte, indem sie ihn um seinen Hals schlang und dabei lachte. „Ohne dich will ich nicht sein, warum ohne Dich.“, sang er leise vor sich hin, die Worte ein verzweifeltes Mantra, das ihm durch die schweren Stunden half.
Die Küche, sonst ein Ort geschäftigen Treibens, war nun still. Die Töpfe und Pfannen hingen unberührt, und der Kühlschrank summte leise in der Stille. Johann erinnerte sich daran, wie sie zusammen gekocht hatten, wie Anna immer die Melodie “Wind of Change” vor sich hin pfiff, während sie Gemüse schnitt. Die Aromen von Knoblauch, frischen Kräutern und gebratenem Fleisch schienen immer noch in der Luft zu liegen, obwohl seitdem viele Wochen vergangen waren.
Im Wohnzimmer standen ihre Fotos, sorgfältig arrangiert auf dem Kaminsims. Johann ging zu jedem Bild und betrachtete sie lange. Ihre gemeinsamen Urlaube, Geburtstagsfeiern, alltägliche Momente – jeder Schnappschuss erzählte eine Geschichte von Glück und Liebe. Doch jetzt schienen diese Momente so fern, als ob sie zu einem anderen Leben gehörten. „ Mit dir im Herzen bin ich auch allein, ohne dich bin ich kein. “, murmelte er und spürte eine tiefe Einsamkeit, die selbst die lebendigsten Erinnerungen nicht vertreiben konnten.
Er ging zum Fenster und blickte hinaus. Der Garten, den sie gemeinsam gepflegt hatten, war nun überwuchert. Die Blumen, die Anna so sehr geliebt hatte, verblühten und verhedderten sich in Unkraut. Der Wind trug den Duft von frischer Erde und verwelkenden Blüten herein, ein bittersüßer Geruch, der ihn an vergangene Sommernachmittage erinnerte, die sie in der Sonne verbracht hatten.
„Ohne dich zählen keine Sekunden, mit dir in Gedanken rennen die Stunden.“, flüsterte Johann, während er das Fenster öffnete und die frische Luft tief einatmete. Es war eine kalte, klare Luft, die ihm einen Moment lang das Gefühl gab, wieder atmen zu können. Doch dann überwältigte ihn die Realität seiner Einsamkeit erneut, und die Sekunden dehnten sich schier endlos aus.
Er ging ins Arbeitszimmer, wo sie oft zusammengesessen hatten – er lesend, sie zeichnend. Annas Skizzenbuch lag noch immer auf dem Schreibtisch, offen mit einer unvollendeten Zeichnung von ihr. Die Linien waren zart und fließend, als ob sie jeden Moment zum Leben erwachen könnten. Johann streifte sanft mit den Fingern über die Seite, spürte das Papier unter seinen Fingerspitzen und stellte sich vor, wie Anna neben ihm saß, konzentriert und voller Leidenschaft.
Jeder Raum, jeder Gegenstand erzählte ihm von ihr und ließ ihn gleichzeitig ihre Abwesenheit umso schmerzlicher spüren. Die Erinnerungen waren wie ein Doppelspiel: Einerseits ein kostbarer Schatz, andererseits eine schmerzhafte Erinnerung daran, was er verloren hatte. „Warum ohne dich?“, flüsterte er in die Stille des Hauses, „Warum stehen ohne dich die Sekunden? “
Johann wusste, dass er lernen musste, mit diesem Verlust zu leben, aber es fühlte sich an, als ob ein Teil von ihm für immer im Schatten der Vergangenheit gefangen war.
Eines Abends, als die Dämmerung das Land erneut in einen Schleier hüllte, fasste Johann einen Entschluss. Der Schmerz und die Erinnerungen hatten ihn in ihrem eisigen Griff, und er wusste, dass er einen Weg finden musste, um Frieden zu schließen. Er würde zurück in den Wald gehen, zurück zu dem Ort, an dem er Anna das letzte Mal gesehen hatte. Vielleicht konnte er dort einen Funken Hoffnung oder zumindest einen Moment des Friedens finden. Mit zitternden Händen zog er seine dicke Jacke an und machte sich auf den Weg.
Der Wald empfing ihn mit seiner stillen, dunklen Umarmung. Die hohen Tannen wirkten wie stumme Wächter, ihre Zweige wie ausgestreckte Arme, die ihn willkommen hießen und gleichzeitig umschlangen. Die Luft war kühl und feucht, erfüllt vom Geruch von Moos und Erde, ein Duft, der tief in seine Erinnerungen eindrang und Bilder von früheren, glücklicheren Zeiten hervorrief.
Johann ging tiefer hinein, den schmalen Pfad entlang, den sie beide so oft gegangen waren. Die Schritte auf dem weichen Waldboden waren gedämpft, fast lautlos, als ob der Wald selbst den Lärm scheute. Die Äste der Bäume raschelten leise im Wind, als ob sie ihm den Weg weisen wollten. In den Gräben neben dem Weg war es still und ohne Leben, und das Atmen fiel ihm schwer. „Weh mir, oh weh“, murmelte er, und die Worte wurden vom Wald verschluckt.
Die Dunkelheit des Waldes schien mit jedem Schritt dichter zu werden, die Schatten um ihn herum wurden tiefer und geheimnisvoller. „In den Bäumen und Gräben, ist es still und ohne Leben“, dachte Johann, als er an einem alten Baum vorbeiging, dessen Rinde vom Alter rissig war. Es war der gleiche Baum, unter dem sie oft gesessen hatten, um die Natur zu beobachten und zu reden. Er legte seine Hand auf die raue Rinde und spürte eine Verbindung zu Anna, als ob der Baum ihre Gespräche und ihr Lachen bewahrt hätte.
Er setzte sich auf einen moosbewachsenen Stein und schloss die Augen. Die Geräusche des Waldes – das leise Rascheln der Blätter, das entfernte Plätschern eines Baches – vermischten sich mit seinen Erinnerungen. Er sah Anna vor sich, ihr Gesicht strahlte in der Abendsonne, ihre Augen funkelten vor Freude. Sie hatte immer eine unerschütterliche Liebe zur Natur gehabt, und dieser Wald war ihr Zufluchtsort gewesen.
„Wie kann ich ohne Dich sein?“, flüsterte er fragend in die Dunkelheit, seine Stimme ein leises Echo in der stillen Umarmung des Waldes. Die Kälte der Nacht kroch langsam in seine Knochen, doch er blieb sitzen, unfähig, sich zu rühren. Jeder Atemzug war ein Akt des Widerstands gegen die allumfassende Trauer, die sein Herz schwer machte.
Er dachte an die vielen Spaziergänge, die sie hier unternommen hatten, an die vertrauten Pfade und versteckten Lichtungen, die sie gemeinsam entdeckt hatten. Der Wald war wie ein lebendiges Tagebuch ihrer gemeinsamen Zeit, jeder Baum, jeder Stein erzählte eine Geschichte von Liebe und Verbundenheit. „Ohne dich zählen keine Sekunden, dich in Gedanken sind Stunden.“, murmelte Johann und spürte die Tränen, die über seine Wangen liefen, als der Schmerz erneut aufwallte.
Plötzlich hörte er ein leises Rascheln hinter sich. Er drehte sich um, doch da war niemand. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, und für einen Moment glaubte er, Annas Stimme im Wind zu hören. Er stand auf und ging weiter, tiefer in den Wald hinein, geführt von einer unsichtbaren Kraft. Der Wald schien ihn zu umarmen, ihn zu trösten, und gleichzeitig erinnerte er ihn unaufhörlich an das, was er verloren hatte.
„Warum Ohne dich?“, flüsterte er erneut, seine Stimme verloren im Zwielicht des Waldes, „aber dich immer in meinem Herzen.“ Der Wald, so schwarz und leer, war nun sein Zufluchtsort und seine Quelle des Schmerzes zugleich. Johann wusste, dass er diesen Ort immer wieder aufsuchen würde, um Annas Nähe zu spüren und sich daran zu erinnern, dass die Liebe, die sie teilten, niemals wirklich enden würde.
Plötzlich hörte Johann ein weiteres leises Rascheln hinter sich. Das Geräusch durchbrach die tiefe Stille des Waldes wie ein Schock. Sein Herz setzte einen Schlag aus und dann begann es, wild in seiner Brust zu hämmern. Er drehte sich langsam um, doch da war immer noch niemand. Der Wind spielte mit den Blättern und ließ die Zweige leicht schwanken, als ob sie ihm den Weg weisen wollten. Ein Schauer lief ihm über den Rücken und er konnte den Geruch von feuchtem Laub und Moos tief in seiner Nase spüren.
Er setzte seinen Weg fort, seine Schritte vorsichtig und bedacht. Die Dunkelheit des Waldes schien dichter zu werden, die Schatten um ihn herum bewegten sich fast lebendig. Dann, zwischen den Bäumen, sah er eine Gestalt – halb im Schatten, halb im Licht. Sein Herz setzte erneut aus. „Bist du es wirklich?“, flüsterte er, seine Stimme zitternd vor Hoffnung und Angst zugleich.
Die Gestalt trat näher und Johann erkannte ihr Gesicht. Es war Anna, ihre Züge weich und friedlich, ihre Augen leuchteten sanft. Ein sanftes Lächeln spielte um ihre Lippen. Die Luft um sie schien mit einer besonderen Präsenz erfüllt zu sein, als ob die Welt für diesen Moment stillstand.
„Anna“, sagte Johann leise, kaum fähig, seine Emotionen zu kontrollieren. Seine Stimme klang wie ein Flüstern im windgepeitschten Wald. „Ich habe dich so vermisst.“
Annas Blick war voller Zärtlichkeit, als sie langsam nähertrat. Sie berührte seine Hand, und Johann spürte eine Kälte, die ihn dennoch wärmte. „Ich bin hier, Johann“, antwortete sie sanft. Ihre Stimme war wie ein Hauch von Wind, der durch die Baumwipfel strich. „Du musst weiterleben.“
Tränen stiegen Johann in die Augen, als er Annas Hand festhielt. „Es tut so weh, ohne dich zu sein“, gestand er. „Jeder Tag fühlt sich an wie eine Ewigkeit.“
Annas Lächeln wurde wehmütig. „Ich weiß“, sagte sie leise. „Aber du bist stark, stärker als du denkst. Du kannst das überwinden.“
Johann nickte langsam, die Worte drangen tief in sein Herz. „Warum musstest du gehen?“, fragte er schließlich, seine Stimme brüchig vor Kummer.
Annas Blick wurde ernst, und sie strich ihm sanft über die Wange. „Es war Zeit“, sagte sie. „Unsere Zeit zusammen war wunderschön, aber das Leben geht weiter. Du musst loslassen, damit du weitergehen kannst.“
Die Worte durchdrangen Johann wie ein Messer aus Eis. Er wusste, dass sie recht hatte, aber der Gedanke, sie loslassen zu müssen, war fast unerträglich. „Ich weiß nicht, ob ich das kann“, flüsterte er.
Anna lächelte traurig und umarmte ihn. Johann spürte ihre Umarmung nur als einen leichten Druck um seine Schultern, aber es war genug, um ihn zu trösten. „Du wirst es schaffen“, sagte sie sanft. „Du bist nicht allein.“
Für einen Moment standen sie dort, umarmt in der Dunkelheit des Waldes, ihre Herzen im Takt des Abschieds und der Hoffnung. Dann begann Anna sich langsam aufzulösen, ihre Gestalt verschwamm und wurde eins mit den Schatten zwischen den Bäumen.
„Anna, bleib bei mir“, flehte Johann, seine Stimme brach vor Verzweiflung.
„Ich bin immer bei dir, tief in deim Herz. “, flüsterte ihre Stimme in seinem Kopf, bevor sie ganz verschwand.
Johann blieb allein im Wald zurück, seine Hand hielt immer noch die leere Luft, wo Anna gestanden hatte. Die Dunkelheit umgab ihn wieder, aber diesmal war sie nicht bedrohlich. Er spürte eine Wärme in seinem Herzen, eine Erkenntnis, dass Anna ihn nie wirklich verlassen würde.
Die Monate zogen ins Land, und Johann fand sich langsam in ein neues Leben ein. Jeder Tag war ein kleiner Kampf, doch die Begegnung im Wald hatte ihm die Stärke gegeben, weiterzumachen. Er wusste, dass die Trauer niemals ganz verschwinden würde, aber er konnte lernen, mit ihr zu leben, sie als Teil seines Seins zu akzeptieren. Der Wald war für ihn zu einem Ort der Besinnung geworden, und er besuchte ihn oft, um seine Gedanken zu ordnen und Annas Gegenwart zu spüren.
An einem kühlen Herbstmorgen, als die Blätter in warmen Gelb- und Rottönen leuchteten, entschied sich Johann, wieder in den Wald zu gehen. Die Luft war frisch und klar, der Duft von feuchtem Laub und fallenden Eicheln erfüllte die Atmosphäre. Ein leichter Nebel hing in der Luft und verlieh der Umgebung eine geheimnisvolle Schönheit. Johann atmete tief ein und fühlte, wie die kühle Luft seine Lungen füllte und ihm neuen Mut gab.
Auf dem Weg zu ihrem Lieblingsplatz dachte er an Anna und ihre gemeinsame Zeit. Die Erinnerungen schmerzten, aber sie brachten auch ein warmes Gefühl des Trostes. „Ohne dich kann ich auch sein, mit dir in meinem Herz“, flüsterte er in den Wind, doch diesmal waren die Worte nicht von Verzweiflung erfüllt, sondern von einer leisen Akzeptanz.
Als er den alten Baum erreichte, an dem sie so oft gesessen hatten, ließ er sich nieder und lehnte sich gegen die raue Rinde. Die Sonne brach durch die Wolken und warf goldene Flecken auf den Waldboden. Ein Eichhörnchen huschte eilig an ihm vorbei, sammelte Eicheln und verschwand wieder in den Bäumen. Johann beobachtete es und fühlte eine seltsame Ruhe. Das Leben ging weiter, auch wenn es sich veränderte.
Er schloss die Augen und erinnerte sich an Annas Lachen, das immer wie eine Melodie in seinen Ohren geklungen hatte. Der Duft von Lavendel schien plötzlich in der Luft zu liegen, obwohl es keine Blumen in der Nähe gab. „Du bist immer bei mir, nicht wahr?“ murmelte er, ein schwaches Lächeln spielte um seine Lippen und erwartete keine Antwort.
An diesem Tag beschloss Johann, etwas Neues zu beginnen. Er nahm einen alten Skizzenblock und Bleistift aus seinem Rucksack und begann zu zeichnen. Es war eine Fähigkeit, die er lange vernachlässigt hatte, doch Anna hatte ihn immer ermutigt, seine künstlerische Seite zu pflegen. Seine Hand zitterte anfangs, doch nach und nach wurde die Linie fester, sicherer. Er zeichnete den alten Baum, die Tannen und das Eichhörnchen, das neugierig aus einem Astloch hervorschaute. Es war eine Hommage an Anna, eine Möglichkeit, ihre Erinnerung lebendig zu halten.
Die Zeit verging und Johann bemerkte nicht, wie der Tag sich dem Ende zuneigte. Erst als die Schatten länger wurden und die Vögel ihr Abendlied sangen, hob er den Blick und sah, dass der Wald sich in eine sanfte Dämmerung hüllte. Er packte seine Sachen zusammen und stand auf. „Adieu Anna. Eines Tages werden wir wieder vereint sein.“, sagte er leise und wusste, dass er einen neuen Weg gefunden hatte, um mit der Zeit umzugehen.
Auf dem Rückweg durch den Wald, der nun von einem sanften, silbrigen Licht durchflutet wurde, spürte Johann eine tiefe Verbundenheit mit der Natur und mit Anna. Er war nicht mehr der gebrochene Mann, der er gewesen war. Die Trauer war noch da, aber sie hatte sich verändert, war zu einem Teil von ihm geworden, den er akzeptieren konnte.
Als er aus dem Wald trat und die ersten Sterne am klaren Nachthimmel aufleuchteten, fühlte er eine neue Hoffnung. Der Duft der Erde und der Bäume blieb in seiner Nase, ein sanfter Trost und eine Erinnerung an die Heilung, die er in der Natur gefunden hatte. „Ohne dich, sehe ich auch Licht.“, flüsterte er in die Nacht, „Aber immer mit dir in meinem Herzen.“
Johann wusste, dass er nie wirklich allein sein würde. Annas Geist lebte in seinen Erinnerungen weiter, in den kleinen Dingen des Alltags und in den großen Momenten der Stille und Besinnung. Er war bereit, das Leben wieder zu umarmen, in dem Wissen, dass die Liebe, die sie geteilt hatten, ihm die Kraft gab, weiterzugehen.
Ein Jahr war vergangen, seit Johann seine Anna verloren hatte. Die Jahreszeiten hatten ihren Zyklus vollzogen, und der Wald, der zu seinem Rückzugsort geworden war, hatte sich in verschiedenen Farben und Stimmungen gezeigt. Johann war heute wieder unterwegs dorthin, doch diesmal mit einem besonderen Gefühl der Vorfreude und Hoffnung im Herzen.
Der Frühling hatte den Wald in ein Paradies aus Farben und Düften verwandelt. Die Luft war erfüllt vom süßen Aroma blühender Blumen und dem frischen, erdigen Geruch neuer Blätter und Triebe. Vögel sangen in den Baumkronen, und das leise Summen der Insekten bildete eine sanfte Melodie, die Johann ein Lächeln entlockte. „Ohne dich,“, dachte er, „aber mit dir in jeder Blume, in jedem Vogelgesang.“
Er trug einen kleinen Rucksack bei sich, der neben Wasser und etwas Proviant auch Annas Skizzenbuch enthielt. Es war ihm zur Gewohnheit geworden, ihre Zeichnungen zu betrachten und sich von ihnen inspirieren zu lassen. Heute hatte er jedoch noch etwas anderes vor. Er wollte ein kleines Denkmal für Anna errichten, einen Platz im Wald, der nur ihnen beiden gehörte.
Als er den alten Baum erreichte, setzte er sich auf den moosbewachsenen Stein und legte den Rucksack neben sich. Der Duft von frischem Moos und feuchtem Holz füllte die Luft, und Johann atmete tief ein, um die beruhigende Wirkung auf sich wirken zu lassen. Er öffnete das Skizzenbuch und blätterte durch die Seiten. Annas Zeichnungen waren lebendig und voller Ausdruckskraft, jede Linie schien ihre Liebe zur Natur und zu ihm widerzuspiegeln.
Er nahm ein kleines Holzkreuz aus dem Rucksack, das er selbst geschnitzt hatte. Es war einfach, aber sorgfältig gearbeitet, und er hatte Annas Initialen darauf eingeritzt. Mit einem leichten Zittern in den Händen begann er, das Kreuz in den Boden zu stecken, neben dem alten Baum, unter dem sie so oft gesessen hatten. „Dies ist für dich, Anna“, flüsterte er, während er das Kreuz fest verankerte.
Tränen liefen über seine Wangen, als er dort kniete, aber sie waren nicht nur Tränen der Trauer, sondern auch des Friedens. „Ohne dich kann ich jetzt sein.“, sagte er leise, „Mit dir in meinem Herzen finde ich den Weg.“ Er legte eine Hand auf das Kreuz und schloss die Augen, spürte die warme Sonne auf seinem Gesicht und hörte das sanfte Rauschen der Blätter über ihm.
Nach einer Weile stand Johann auf und fühlte sich leichter, als ob eine Last von seinen Schultern genommen worden wäre. Er nahm das Skizzenbuch und begann zu zeichnen, ließ sich von der Schönheit des Waldes und der Erinnerung an Anna inspirieren. Seine Hand bewegte sich sicher und ruhig über das Papier, und es entstand ein Bild von dem alten Baum, dem Kreuz und den blühenden Blumen um ihn herum.
Während er zeichnete, fühlte er eine tiefe Verbindung zu Anna, als ob sie neben ihm säße und ihm über die Schulter schaute. Der Duft der Blumen, der Gesang der Vögel und das Rascheln der Blätter vermischten sich zu einer Symphonie der Natur, die ihn tröstete und ihm Kraft gab. „Ja, ich lebe ohne Dich,“, murmelte er, „aber ich lebe weiter, mit dir in meinem Herzen, jedem Augenblick.“
Als die Sonne begann unterzugehen und der Himmel in warmen Gold- und Orangetönen erstrahlte, packte Johann seine Sachen zusammen. Er nahm einen letzten Blick auf das kleine Kreuz und das Bild, das er gezeichnet hatte. „Ich werde wiederkommen“, versprach er leise, „und immer an dich denken.“
Der Rückweg durch den Wald war erfüllt von einem neuen Gefühl der Hoffnung. Die Dunkelheit, die ihn einst erdrückt hatte, war einer sanften Dämmerung gewichen, die den Weg vor ihm erhellte. Der Duft von frischen Blättern und Blüten umgab ihn, und er fühlte sich, als ob er nicht allein ging.
Johann wusste, dass das Leben weitergehen würde, mit all seinen Höhen und Tiefen. Doch er hatte einen Ort gefunden, an dem er immer Annas Nähe spüren konnte, und das gab ihm die Kraft, neue Wege zu gehen und das Leben wieder zu umarmen. „Ohne dich“, flüsterte er, „aber immer mit dir, in jeder Blume, in jedem Vogelgesang, in jedem Atemzug. Danke, das du warst.“
Ende