
Emil
Kurzgeschichte
Erschienen am 13. Juni 2025.
© 2025 Kay Roedel
--- FSK 16 ---
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Der Schatten kroch tiefer in die Ecken des Kinderzimmers, als wäre er ein lebendiges Wesen, das sich langsam und unaufhaltsam ausbreitete. Nicht durch die Fenster, die fest verschlossen waren und kein Licht hereinließen, sondern aus dem Herzen der Dunkelheit selbst. Es war, als würde die Dunkelheit atmen, sich ausdehnen und jeden Winkel des Raumes erfüllen. Die Wände schienen sich zu verengen, und die Luft wurde schwer und kalt.
Es begann mit einem kleinen Schrei, einem kindlichen Aufbäumen gegen die Müdigkeit, gegen das Unverständnis der Welt. Klein-Emil, kaum zwei Jahre alt, lag in seinem Gitterbett, die kleinen Fäuste geballt. Seine Mutter, Sarah, saß auf einem Stuhl neben dem Bett und summte leise ein Schlaflied, eine Melodie, die sie seit seiner Geburt jeden Abend sang. Doch an diesem Abend schien Emil davon unberührt. Seine Augen waren weit aufgerissen, und sein kleiner Körper war angespannt, als würde er gegen unsichtbare Fesseln kämpfen.
Sarah strich ihm sanft über den Kopf, ihre Finger glitten durch sein weiches, blondes Haar. „Alles ist gut, mein Schatz“, flüsterte sie. „Mama ist hier.“ Doch ihre Worte schienen ihn nicht zu beruhigen. Im Gegenteil, Emil schien noch unruhiger zu werden. Seine kleinen Beine strampelten gegen seine Decke, und sein Atem ging schnell und gepresst.
Dann kam die Wut. Sie brodelte in ihm auf, eine kochende Flut, die viel größer war als sein kleiner Körper. Es war, als würde etwas in ihm erwachen, etwas Dunkles und Unkontrollierbares. Er spürte sie, diese rasende, alles verzehrende Wut, und plötzlich war es kein kindliches Weinen mehr, sondern ein tiefes, animalisches Knurren. Sarah erstarrte. Etwas stimmte nicht und sie schreckte mit ihrer Hand zurück.
Das Zimmer verdunkelte sich weiter, obwohl die Nachttischlampe hell brannte. Das Licht schien zu flackern, als würde es gegen die Dunkelheit kämpfen, die sich unaufhaltsam ausbreitete.
Emil klammerte sich an die Gitterstäbe seines Bettes, seine kleinen Finger verkrampften sich, die Nägel krallten sich in das Holz.
Sarah wagte sich wieder näher. „Emil? Mein Schatz, was ist los?“ Ihre Stimme zitterte, ein feiner Schauer lief ihr über den Rücken. Sie spürte, wie die Luft schwer wurde, fast greifbar, erfüllt von einer unheimlichen Präsenz. Es war, als würde etwas Unsichtbares den Raum erfüllen, etwas, das sie nicht sehen, aber deutlich spüren konnte.
Sie streckte die Hand aus, um Emil zu beruhigen, doch als ihre Finger seine Haut berührten, zuckte Emil zurück, als hätte sie ihn verbrannt. Seine Haut war heiß, fast glühend, und sein Körper war steif wie ein Brett. Sarah spürte, wie ihr Herz schneller schlug, und ein Gefühl der Angst stieg in ihr auf. Sie hatte noch nie etwas Derartiges erlebt.
„Emil, bitte“, flehte sie. „Sag Mama, was los ist.“ Doch Emil schien sie nicht zu hören. Sein Blick war starr auf einen Punkt in der Dunkelheit gerichtet, als würde er etwas sehen, das für Sarah unsichtbar war. Seine Lippen bewegten sich, als würde er versuchen, etwas zu sagen, doch es kam kein Laut heraus.
Plötzlich begann das Zimmer zu vibrieren. Die Bilder an den Wänden klapperten, und die Vorhänge bewegten sich, als würde ein unsichtbarer Wind durch den Raum wehen. Sarah spürte, wie ihr die Kontrolle entglitt, und sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie wollte schreien, um Hilfe rufen, doch ihre Stimme versagte.
Dann sah sie es. Emils Veränderung. Sie war subtil, anfangs kaum wahrnehmbar, aber sie war da. Sarah spürte einen Anflug von Panik.
Emils Gesicht begann sich zu verändern, seine kleinen, runden Wangen wurden knochig und spitz, als würden sie von innen heraus geformt. Seine Haut, einst weich und rosig, nahm einen fahlen, fast durchscheinenden Ton an. Seine Lippen zogen sich zurück und enthüllten Zähne, die zu wachsen schienen, sich zu messerscharfen Reißzähnen formten. Die Veränderung war schmerzhaft anzusehen, als würde sein Gesicht von unsichtbaren Händen geformt.
Seine Haare, die eben noch weich und blond gewesen waren, begannen sich zu verhärten und sprossen in dunklen, borstigen Strähnen aus seiner Kopfhaut. Sie wuchsen schnell, fast wie Unkraut, das sich unkontrolliert ausbreitet. Seine Augen, einst blau und unschuldig, wurden schmal und glühten in einem unheimlichen Rot, wie glimmende Kohlen. Es war, als würde etwas in ihm erwachen, etwas, das nicht von dieser Welt war. Seine Haut begann sich zu spannen, als würde sie von innen heraus gedehnt, und seine Muskeln wuchsen, als würden sie sich unter seiner Haut winden und krümmen.
Emils Körper zuckte und verkrampfte, als er gegen einen unsichtbaren Dämonen in seinem Körper kämpfte, der immer mächtiger wurde. Seine Finger krümmten sich zu Klauen, und seine Nägel wurden lang und scharf wie die eines Raubtiers. Sein Atem ging schnell und schwer, als würde er gegen einen unsichtbaren Feind kämpfen. Die Luft um ihn herum schien zu vibrieren, sie wurde von seiner Transformation beeinflusst.
Dann wurde es still. Zu still, nach dem was gerade eben geschah ...
Ein tiefes, uraltes Geräusch entfuhr seiner Kehle, ein Geräusch, das nicht von einem Kind stammen konnte. Es war das Brüllen eines Raubtiers, kalt und hungrig, erfüllt von einer uralten, dunklen Wut. Sarah spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte und es fühlte sich an, als würde es gleich aus ihrer Brust springen. Eine Welle der Panik überflutete sie, eiskalt und lähmend. Sie wollte schreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt, ihre Stimme versagte. Jeder Muskel in ihrem Körper war angespannt, und ihre Hände zitterten unkontrollierbar, während sich der kalter Schweiß auf ihrer Stirn bildete. Ihre Gedanken rasten, doch sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie war in einem Albtraum gefangen, aus dem es kein Entkommen gab.
Emil packte die Gitterstäbe seines Bettes mit übermenschlicher Kraft. Das Holz ächzte unter dem Druck seiner Klauen, bevor es mit einem ohrenbetäubenden Krachen nachgab und zerbrach. Sarah taumelte rückwärts, ihre Beine fühlten sich an wie Blei, schwer und unbeweglich. Ihre Augen waren weit aufgerissen vor Entsetzen, und ihr Atem ging schnell und keuchen. Sie erkannte ihr Kind nicht mehr. Vor ihr stand eine Kreatur, ein Albtraum, geboren aus kindlicher Wut und einer uralten, dunklen Kraft. Jede Faser ihres Körpers schrie danach, wegzulaufen, doch sie war wie an den Boden genagelt, unfähig, sich zu bewegen.
Emil, oder was auch immer er jetzt war, sprang aus dem Bett und landete auf allen vieren, mit solcher Wucht auf dem Holzfußboden, dass dieser vibrierte. Langsam umschlich er Sarah. Seine Bewegungen waren flüssig und grazil, wie die eines Raubtiers auf der Jagd. Er war kräftiger, seine Muskeln spannten sich deutlich unter der blassen Haut. Seine Augen fixierten Sarah, und in ihnen brannte ein unstillbarer Durst, ein Hunger, der sie durchdrang. Sie spürte, wie ihr Herz bis zum Hals schlug. Jeder Atemzug war eine Qual, als würde die Luft um sie herum dünner werden. Sie spürte, wie ihr Körper zu zittern begann, und ihre Körper drohten nachzugeben.
Sarah stolperte rückwärts, unfähig, ihren Blick von der monströsen Gestalt abzuwenden. Sie sah die blutigen Flecken, die sich auf Emils Brust gebildet hatten – kleine Wunden, die von den Holzsplittern der Gitterstäbe stammten. Doch sie heilten bereits, die Haut schloss sich wie von selbst, als würde sie von einer unsichtbaren Kraft wieder zusammengefügt. Die Zeit schien rückwärts zu laufen und sein Körper sich selbst reparieren. Sarah spürte, wie ihr Magen sich zusammenkrampfte, und eine Welle der Übelkeit überkam sie. Sie wollte schreien, um Hilfe rufen, doch ihre Stimme versagte.
Sarah versuchte, die Tür zu erreichen, aber er war schneller. Jeder Schritt fühlte sich an, als würde sie durch zähen Schlamm waten. Sie spürte, wie ihre Kräfte sie verließen, und ihre Hoffnung schwand.
Mit einer explosiven Bewegung katapultierte sich das Monstrum nach vorne, seine einst kleinen Hände hatten sich in riesige Klauen verwandelt, bewehrt mit messerscharfen Krallen, die im fahlen Licht des Zimmers bedrohlich glänzten. Mit der Wucht eines Raubtiers traf er Sarah, und sie spürte, wie sich seine Krallen tief in ihr Fleisch gruben. Ein stechender, brennender Schmerz durchfuhr ihren Körper, als würde glühendes Eisen sie durchbohren.
Ein markerschütternder Schrei entrang sich ihrer Kehle, ein Schrei, der die Stille der Nacht zerriss und in den leeren Haus widerhallte. Seine Klauen rissen ihr die Haut vom Körper, als wäre sie aus Papier, und dann bohrten sich seine Reißzähne tief in ihr Fleisch, wie in weiches Brot. Immer und immer wieder. Sarah spürte noch das Gefühl von warmem Blut, das über ihren Körper lief. Die Wut, die ihn antrieb, pulsierte jetzt auch in ihren Schmerzen, eine grausame Verbindung zwischen Mutter und Monster.
Mit jedem Schwall Blut wurde Sarah immer schwächer. Ihre Sicht begann zu verschwimmen und bedeckten ihre Augen mit dem Nebel des Endes. Jeder Atemzug war eine Qual und ihre Gedanken wurden immer unschärfer. Das letzte Bild, das sich ihr einbrannte, war Emils Gesicht, verzerrt von einer animalischen Raserei, seine Augen glühten wie die eines Dämons, bevor die Dunkelheit sie endgültig verschlang.
In diesem Moment überkam sie eine tiefe, unerklärliche Traurigkeit, als sie für immer Abschied von der Welt nahm. Es war, als würde sie in einen dunklen Abgrund gezogen, aus dem es kein Entkommen gab. Sie erkannte, dass dies das Ende war. Sarahs zerrissener und blutender Körper lag reglos auf dem Boden, ihr letzter Atemzug entwich ihren Lippen, während ihr Blick langsam erlosch. Sie wurde in den dunklen Abgrund gezogen, aus dem es kein Entkommen gab.
Die Kreatur, die einst Emil gewesen war, blieb regungslos über Sarahs leblosem Körper stehen. Langsam begann sich sein Atem zu beruhigen, und sein Körper zuckte in unkontrollierten Schüben. Seine Muskeln entspannten sich, und seine Gestalt schien sich zu verändern, als würde die dunkle Energie, die ihn durchflutet hatte, langsam aus ihm weichen. Seine Klauen verkürzten sich, die scharfen Kanten verschwanden, und seine Hände nahmen wieder die Form kleiner Kinderhände an.
Sein Atem wurde gleichmäßiger, und sein Körper schien sich zu verkleinern und sein Körper nahm die ursprüngliche Gestalt des Kleinkindes wieder an. Die Wut in seinen Augen erlosch langsam, und das rote Glühen verblasste zu einem sanften Blau. Seine borstigen, dunklen Haare wurden wieder weich und blond, als würde die Zeit rückwärts laufen.
Das Kinderzimmer war still. Emil bewegte sich langsam und mit kindlicher Unschuld zurück zu seinem Bett. Als er das Bett erreichte, war Emil wieder ganz er selbst. Er nahm sein Lieblingsstofftier, legte sich in sein kaputtes Kinderbett und schlief satt und friedlich ein. Von der wahnsinnigen Tat wusste Emil nichts.
Am nächsten Morgen würde Sarahs Mann sie tot im Kinderzimmer finden. Er würde verzweifelt nach dem suchen, das sie umgebracht hatte – unwissend, es nicht finden zu können. Und in einem kaputten Gitterbett, friedlich liegend, würde ein kleiner Junge schlafen, ein Stofftier im Arm, bereit für sein Frühstück. Die Wut schlief nur, bereit, sich beim nächsten Mal wieder zu entfesseln.
Niemand würde je erfahren, was wirklich in dieser Nacht im Kinderzimmer geschehen war. Niemand, solange Emil – einfach nur Emil – blieb. Die Erinnerung an diese schreckliche Nacht würde für immer in den Schatten des Zimmers verborgen bleiben, ein Geheimnis, das nur die Dunkelheit kannte.
ENDE